Martina Rens
  

Leseprobe "Letzter Fall"

 

09.30 Uhr
Normalerweise stellt ihre Sekretärin die Anrufe nicht durch. Sie notiert sie und Katrin ruft zurück, wenn sie Zeit hat. Das Klingeln des Telefons ärgert sie daher etwas.
Sie legt die Akte zur Seite, in der sie gelesen hatte und schaut auf die Uhr.
Die nächste Verhandlung ist um 11 Uhr. Die Verhandlung ist lediglich pro forma, Bedingungen und Strafmaß für den 11-Uhr-Fall wurden längst vorab vereinbart. Das Schriftstück ist bereits vorgefertigt und muss nur noch bestätigend vorgelesen und vom Richter abgesegnet werden; sie wird es gleich zur Sicherheit noch einmal kurz durchlesen.
Katrin nimmt die Brille ab und knetet ihre Nasenflügel.
Manchmal hatte sie es einfach satt. Müde war sie, ausgelaugt. Gefangen in der Tretmühle einer Gerichtswelt, in der ihre Illusionen im Laufe der Zeit zerplatzt sind wie Seifenblasen.
Das Bild, das sie als Studentin von der Justiz hatte, war einer enttäuschten Ernüchterung gewichen. Gerechtigkeit, dafür hatte sie studiert, hatte sich in den ersten Jahren vehement dafür eingesetzt. Auch wenn sie diesen Beruf mit großer Leidenschaft ausübte: Es passierte immer öfter, dass sie nach geschlossenen Deals wütend die Akten auf ihren Schreibtisch pfefferte. Als Oberstaatsanwältin musste sie häufiger einen Kuhhandel, so bezeichnete sie diese Vereinbarungen im Stillen, akzeptieren, als ihr lieb war.
Vielleicht sollte sie doch mal kürzertreten. Oder mal wieder Urlaub machen. Der letzte lag schon länger zurück. Sie wollte eigentlich schon viel früher wieder nach Ibiza reisen, Susanne besuchen und …
Sie beugt sich vor und nimmt den Hörer ab.
»Ja?« sagt sie etwas kurzangebunden.
»Frau Keller vom Pflegeheim ist am Telefon, Frau Dr. Bürgin. Sie sagt, es sei dringend.«
Ihre Sekretärin sagt es in entschuldigendem Ton.
Katrins Magen zieht sich leicht zusammen. Schweißige Kälte kriecht zwischen ihren Schultern hoch. Sie hatte die Anweisung gegeben, alle Anrufe des Pflegeheims durchzustellen, wenn sie dringend waren. Doch das war bisher nur ein einziges Mal geschehen.
»Danke Frau Sommer, stellen Sie bitte durch«, sagt sie daher etwas freundlicher.
Das Lämpchen auf der Telefonanlage blinkt. Frau Sommer hat den Anruf auf Leitung zwei gelegt.
Katrin holt tief Luft, dann nimmt sie ab.
»Frau Dr. Bürgin, es tut mir unendlich leid, aber ihre Mutter ist vor einer halben Stunde verstorben. Mein herzlichstes Beileid.«
Frau Keller redet weiter, aber Katrin hört nicht mehr zu. In ihrem Kopf macht sich Watte breit.
Einen Moment sitzt sie regungslos am Schreibtisch. Dann legt sie den Hörer auf. Langsam, behutsam, als könnte er zerbrechen.
Mama ist tot. Der Satz läuft in einer Endlosschleife in ihrem Kopf herum, lähmt jeden anderen Gedanken. Mama ist tot.
Sie zündet sich eine Zigarette an, legt sie nach einem tiefen Zug mit zitternden Fingern in die Einkerbung des Aschenbechers. Rauch steigt wie ein dünner Faden hoch und verliert sich dann in der Luft.
Ein Kloß pocht in ihrem Magen. Auf einmal geht das Atmen schwerer. Als ob Luft in ihrer Lunge fehlt. Sie fühlt das Klopfen ihres Herzens in der Kehle und legt den rechten Zeige- und Mittelfinger in die kleine Einbuchtung an ihrem Hals. Fühlt das Pulsieren. Schnell. Sehr schnell. Unregelmäßig. Hart. Schmerzhaft.
Ein Gefühl der Übelkeit überkommt sie. Sie schließt kurz die Augen, schluckt. Atmet tief ein und aus. Ein und aus. Noch einmal. Langsam verebbt die Übelkeit. Sie öffnet die Augen wieder. Der pochende Magenkloß beginnt zu brennen. Contenance, Katrin, Contenance.
Wissen Jürgen und Andreas schon Bescheid? Wahrscheinlich nicht, für das Pflegeheim ist sie der Ansprechpartner, nicht ihre Brüder. Sie wird sie anrufen müssen. Hat sie überhaupt ihre Nummern? Wann hat sie die Beiden eigentlich zum letzten Mal gesehen? Ihr Handy liegt neben dem Telefon auf dem Schreibtisch. Mit fahrigen Händen sucht sie in den Kontakten nach den Telefonnummern. Sie sind nicht gespeichert. Wozu auch.
In der Schreibtischschublade müsste noch das Adressbuch sein. Die Lade klemmt wie immer, und wie immer reißt sie kräftig an dem massiven Messinggriff, um sie zu öffnen. Das Buch liegt ganz hinten, verdeckt von geöffneten Kekspackungen und zerdrückten Zigarettenschachteln.
Ungeschickt zieht sie es heraus. Weiches rotes Leder, abgewetzt und abgegriffen; das goldgeprägte »Adressen« auf der Vorderseite verkratzt und kaum noch lesbar. Sie dreht das Buch um.
Auf der Rückseite, unten rechts in der Ecke, sind mit zierlichen verschlungenen Buchstaben unauffällig ihre Initialen eingeprägt: KB.
Sie hat es sich selbst geschenkt. Von ihrem ersten Geld, das sie während ihres Studiums verdient hat, mit dem gleichzeitigen Versprechen an sich selbst, das Buch mit Namen und Telefonnummern zu füllen, die wichtig für ihr berufliches Vorankommen sein könnten. Das Vitamin-B-Buch hat sich ausgezahlt. Für ihre Karriere. Ergänzend zu ihrem eigenen Ehrgeiz, versteht sich. Irgendwann ganz oben sein. Ihr Credo, sie hat danach gelebt und gehandelt.
Auf dem schmalen Grat harter Arbeit, scheinbar beiläufig und doch verbindlich dahingeworfener »Ich-schau-mal-was-ich-für-dich-tun kann«-Sätze ihrer Kontakte und nötiger Rücksichtslosigkeit war ihr der perfekte Spitzentanz gelungen. Die Personen, die sich dahinter verbargen, manchmal nur in Form von Initialen, und Telefonnummern waren Sprossen einer stabilen Leiter. Ihrer Karriereleiter. Längst waren die wichtigsten Kontakte in die moderne Variante Smartphone übertragen worden, einige davon in verschlüsselter Form. Hieroglyphen, deren Bedeutung nur sie kannte. Man weiß ja nie.
Ein leicht muffiger Geruch entströmt den Seiten, als sie das Adressbuch aufklappt und die Tabak- und Kekskrümel herausschüttelt.
Sie rümpft die Nase. Das Muffaroma bringt die Übelkeit zurück. Erneutes tiefes Ein- und Ausatmen. Es wird besser, und sie schlägt die Seiten auf.
Buchstabe B. Da waren sie. Ihre Nummern mit der fünfstelligen Vorwahl und der dreistelligen Telefonnummer. Wer hat heutzutage eigentlich noch eine dreistellige Nummer? Sie wohnen noch immer im gleichen Ort, beide im Nachbarort des Dorfes, in dem sie alle drei aufgewachsen sind.

 

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